„KINDHEIT IST POLITISCH !“
35. Jahrestagung der GESELLSCHAFT FÜR PSYCHOHISTORIE UND POLITISCHE PSYCHOLOGIE (GPPP)
Es ist heute aufgrund einer breiten empirischen Forschung belegt, dass in der Zeit vor der Geburt und in den ersten drei Lebensjahren die Basis für die spätere Persönlichkeitsentwicklung gelegt wird. Es ist ebenso belegt, dass das Kind wegen seiner „Unfertigkeit“ bei der Geburt und der dadurch bedingten Hilflosigkeit auf eine umfassende Unterstützung und emotionale Koregulation durch die Eltern und insbesondere die Mutter angewiesen ist. Die Möglichkeit, dass die Eltern und die weitere Familie einen solchen begleiteten Entwicklungsraum für die Kinder zur Verfügung stellen können, hängt entscheidend von der gesellschaftlichen Wahrnehmung der grundlegenden Bedeutung dieser Entwicklungszeit und den entsprechenden gesellschaftlichen Entscheidungen ab. Zur Zeit ist es aber so, dass aus unserer patriarchalen Geschichte heraus die Wahrnehmung für diese primär weiblich-mütterliche Dimension unseres Lebens eingeschränkt und unvollständig ist. Darum erfolgen auch die gesellschaftlichen Entscheidungen in Bezug auf diese Zeit aus einer einseitigen und unvollständigen Kenntnis dieser Lebenswirklichkeit. Dafür ist das Überwiegen wirtschaftlicher Gesichtspunkte in Bezug auf die Frühbetreuung und eine zum Teil mangelhafte Berücksichtigung der Entwicklungsbedürfnisse des Kindes ein Beispiel. Ein weiteres Beispiel sind die vorrangig medizinischen Gesichtspunkte in der Schwangerschaftsbetreuung und Geburtshilfe, was die psychologischen Bedürfnisse der Mutter und des Kindes oft nicht ausreichend berücksichtigt. Schließlich sehen wir eine Fortsetzung dieser Problematik einer zu geringen Beachtung der psychologischen Gesichtspunkte in der Schule, weil die Stoffvermittlung einseitig im Vordergrund steht und die kindliche Entwicklungsdynamik zu begrenzt berücksichtigt wird. Doch gibt es auch die gute Nachricht, dass dank der langen Friedenszeit eine deutliche Abnahme der Gewaltbereitschaft in den westlichen Gesellschaften festzustellen ist, deren Hintergrund eine Verbesserung der Eltern-Kind-Beziehungen in den letzten Jahrzehnten ist. Gerade daran wird die grundsätzliche Bedeutung der frühkindlichen Entwicklungsbedingungen für die gesellschaftliche Gesamtverfassung besonders deutlich. Die Schrecken der frühen Kindheit in vergangenen Zeiten wurden von den Erwachsenen in den Schrecken der gesellschaftlichen Veranstaltungen und Verhältnissen reinszeniert. Dazu gibt es heute aus der Psychohistorie ein breites Wissen, das durch diese Tagung mehr bekannt gemacht werden soll.
„Die ersten Jahre des Lebens sind wie die ersten Züge einer Schachpartie, sie geben den Verlauf und den Charakter der Partie vor“ (Anna Freud)
Ludwig Janus, Dossenheim