Durch ein anderes Tor ins Leben – Kaiserschnittgeburten und die “Nachreifung” des Geburtsprozesses durch musiktherapeutische Rituale
Im November 2013 schrieb Frau Nunold eine sehr interessante Arbeit zum Thema “Durch ein anderes Tor ins Leben – Kaiserschnittgeburten und die “Nachreifung” des Geburtsprozesses durch musiktherapeutische Rituale”
Im Juli 2014 hat uns Frau Nunold Ihre überarbeitete Fassung zur Verfügung gestellt.
Finden Sie nachfolgend die Einleitung der sehr interessanten Abhandlung zu diesem Thema. Das gesamte Werk als PDF-Dokument können Sie sich gern herunterladen. Danke an Frau Nunold, dass Sie uns Ihre Arbeit zur Verfügung gestellt hat.
Einleitung
Der Kaiserschnitt ist heutzutage der häufigste perinatal-operative Eingriff. Seine Besonderheit: Er ist die einzige Operation, die nicht an einer, sondern an zwei Personen durchgeführt wird. Mit weitreichenden Konsequenzen für beide Beteiligte. Für die Mutter bedeutet er, dass sie körperlich nicht mehr unversehrt ist und fortan mit einer Narbe und manchmal auch mit psychischen Verletzungen leben muss. Für das Kind aber ist der Kaiserschnitt mehr als nur eine Operation: Es ist seine Geburt!
Die Geburt, der „größte Übergang“ im Leben eines Menschen (Hans-Helmut Decker-Voigt 2008) wird heutzutage in Deutschland bei nahezu jedem dritten Kind nicht durch den Geburtskanal, sondern durch einen Schnitt in die Bauchdecke vollzogen. Das ist eine Entwicklung, die die Kaiserschnitt-Geburt schon bald als „normal“ gelten lassen muss. Es gibt sogar Kliniken, die mit dem Kaiserschnitt als „natürliche“ Geburtsmethode werben! Eine natürliche Geburtsmethode wird sie niemals sein, aber allemal eine Methode, die mehr und mehr zum geburtshilflichen Alltag gehört und somit mehr und mehr Einfluss auf das Leben und die Gesundheit von uns Menschen nimmt.
Daher ist es äußerst wichtig, sich mit den körperlichen und seelischen Auswirkungen dieses Trends auf Mutter und Kind und auch mit den weiterreichenden gesellschaftlichen Aspekten auseinanderzusetzen. Dies ist bisher viel zu wenig geschehen. Der Kaiserschnitt ist ein sehr komplexes Phänomen, dem man nicht aus nur einer wissenschaftlichen Disziplin heraus gerecht werden kann; vielmehr ist es notwendig, unterschiedliche Blickwinkel einzubeziehen, um sich dem Thema anzunähern.
Dies werde ich in der folgenden Arbeit versuchen, indem ich Aspekte aus den folgenden Fachbereichen nenne und miteinander in Beziehung setze: Medizin(geschichte), bes. Gynäkologie und Geburtshilfe, Kinderheilkunde, (Entwicklungs)psychologie, insbesondere Prä-und Perinatalpsychologie, Neurobiologie, Hebammenkunde, Sozial- und Gesundheitswissenschaften und nicht zuletzt therapeutische Ansätze, in diesem Falle musik- und klangtherapeutische. Auch betroffene Mütter und (erwachsene) Kinder kommen zu Wort. Moralische, spirituelle und religiöse Aspekte sind für eine möglichst holistische Betrachtungsweise ebenfalls wichtig und werden am Rande ebenfalls Erwähnung finden.
Kompliziert wird das Thema „Kaiserschnitt“ dadurch, dass zwei Personen unmittelbar betroffen sind – Mutter und Kind, und mit dem Vater meistens noch eine dritte. Aus psychotherapeutischer bzw. musiktherapeutischer Sicht erfordert dies eine diagnostische Differenzierung: Um wessen Erleben, um wessen Gesundheit, um wessen Therapie geht es? Oder steht das gemeinsame Erleben im Mittelpunkt? Es ergeben sich vier therapeutische Konstellationen:
- Mutter und Kind
- Nur Mutter
- Nur Kind
- Das Familiensystem
Das Thema Kaiserschnitt und seine Folgen definiert in problematisierende und in unproblematische Richtungen. Eine Kaiserschnittgeburt bedeutet nicht per se einen „misslungenen Übergang“ im Sinne Decker-Voigts (s. Kapitel 3.1). Auch ist es unstrittig, dass eine Sectio in vielen – medizinisch notwendigen – Fällen Leben rettet. Es ist daher nicht mein Anliegen, den Kaiserschnitt als geburtshilfliche Methode in Frage zu stellen.
Auch muss man bei der Diskussion um Kaiserschnitte und die Folgen bedenken, dass Betroffene, die selber durch einen Schnitt geboren wurden, sich durch eine einseitig „störungsorientierte“ Sichtweise diskriminiert fühlen können. Man darf nicht vergessen, der Kaiserschnitt ist für manche Menschen die Art, wie sie auf die Welt gekommen sind (vgl. English 2013).
Was ist anders, wenn ein „anderes Tor ins Leben“ (Oblasser et al. 2008) gewählt wurde oder werden musste und wie wirkt sich die Sectio auf die körperliche und seelische Gesundheit und auf die Beziehung zwischen Mutter, Vater und Kind aus? Wie können Störungen und Traumata, die durch einen Kaiserschnitt verursacht wurden, durch musiktherapeutische Rituale oder Methoden behandelt werden und sogar eine Nachreifung des Geburtsprozesses ermöglichen und zu einem gesunden Lebensgefühl bei Mutter und Kind führen? Gibt es Präventionsmöglichkeiten?
Diese Fragen beschäftigen mich, seitdem ich nach meinem ersten Seminar im Januar 2012 mit H.-H. Decker-Voigt meiner Freundin Yvonne davon erzählte, dass nach Meinung von Experten die meisten psychischen Störungen durch nicht gelungene Übergänge im Leben der Menschen entstehen. Sie berichtete mir daraufhin über ihre traumatischen Erfahrungen bei der Kaiserschnitt-Geburt ihrer Tochter eineinhalb Jahre zuvor: Sie habe bis dato Schwierigkeiten, ihr Kind emotional loszulassen, und der Prozess des „auf-die-Welt-Bringens“, des sich-Trennens vom Kind war bei ihr nicht vollständig abgeschlossen. Als wären Körper und Seele immer noch im Zustand der Schwangerschaft gefangen. Von einer Heilpraktikerin hatte meine Freundin das Angebot bekommen, die Geburt in Form eines Rituals „nachzuholen“. Genaueres dazu konnte sie mir nicht berichten – sie hatte das Angebot nicht angenommen.
Mich ließ die Frage nach diesem Ritual nicht mehr los, und wie man eine derartige Nachreifung mit musiktherapeutischen Methoden durchführen könnte. Als ich das Ritual, das „heilende Babybad“ nach Brigitte Meissner, ausfindig gemacht hatte, wendete ich es in abgewandelter Form bei Yvonne und ihrer Familie an – dies werde ich ausführlich in der Einzelfallstudie im zweiten Teil meiner Arbeit schildern.
Dabei war es mir durchaus bewusst, dass sich aus der Behandlung einer Freundin eine gewisse Nähe-Distanz-Problematik ergeben würde; ich habe dies sehr offen mit Yvonne besprochen und sie versicherte mir, dass ihr die Sache an sich (die Kaiserschnittproblematik anzugehen und ihre Erfahrungen an die Öffentlichkeit zu bringen) wichtiger wären als der Schutz ihrer Intimsphäre. Ich selber hatte auch Bedenken was meine „Abstinenzpflicht“ als Therapeutin betraf, aber das drängende wissenschaftliche Interesse und nicht zuletzt meine tiefe Überzeugung, meiner Freundin durch Musiktherapie helfen zu können, waren als Motivation stärker.