Frieder Pfrommer, Systemischer Kinder- und Jugendlichenpsychotherapeut, Rottenburg, anlässlich der Barcamp-Arbeitsgruppen beim Fachtag der DGSF (Deutsche Gesellschaft für Systemische Therapie, Beratung und Familientherapie e.V.) zu Fort- und Weiterbildungsfragen vom 17.-18. März 2024 in Fulda mit dem Thema: „Systemische Therapie: Weiterbildungen fit für die Zukunft 2035 !?“
Aus der Perspektive der Pränatalen Psychotherapie wird angenommen, dass mindestens ab dem Zeitpunkt der Konzeption die Verkörperung menschlichen Lebens stattfindet und die Erfahrungen – sowohl positive, als auch negative – im sogenannten Zellwissen (1) gespeichert werden und sich epigenetisch auswirken können (2).
Für die psychosomatische Entwicklung sind nicht nicht nur die Umstände und Haltungen zum Zeitpunkt der Zeugung von Bedeutung, sondern auch die zum Zeitpunkt der Einnistung, der Entdeckung der Schwangerschaft, der Entscheidung zur Pränataldiagnostik (NIPT – Bluttests, Ultraschall, Fruchtwasseruntersuchungen) und der Entscheidung für oder gegen eine Abtreibung.
Essentielle Fragen, wie “Bin ich in dieser Welt willkommen?”, “Bekomme ich einen sicheren Platz ? ” (im Uterus, in der Familie und in erweiterten sozialen Systemen ?) und “Darf ich dazugehören?”, “Werde ich (an)gesehen und gehört mit dem, was ich zu sagen habe?” kommen vor allem bei den jeweiligen Übergängen z.B. bei der Geburt und danach, Eintritt in Kita , Kindergarten, Grundschule, weiterführende Schule, Pubertät, Berufs-ausbildung usw. immer wieder eine Relevanz für gelingende Prozesse (3).
Die Erfahrungen aus der Anfangszeit können sich demnach bei späteren Übergängen wieder zeigen und rekonstruiert werden. Sowohl auf der individuellen Ebene, als auch auf der Familienebene sind die Fähigkeitenzur Selbstorganisation sowie Selbst- und Ko-Regulation gefragt.
So gesehen sind die prä-, peri- und postnatalen Themenbereiche auch bedeutsam für systemisch arbeitende Menschen. Bisher bereits etablierte Schnittstellen sind die Dynamiken der Entwicklung von der Diade zur Triade, also von der Paar- zur Eltern- und Familienebene, eine der sogenannten natürlichen Krisen im Lebenszyklus nach Virginia Satir. Auch bei der Betrachtung von transgenerationalen Prozessen in der Familenrekonstruktion und in der Arbeit mit dem Genogramm spielen die Geschehnisse rund um die Zeugung, Schwangerschaft und Geburt bereits eine bekannte Rolle.
Denn die Entstehung und Entwicklung der Eizellen (Oogenese) der ersten Generation geschieht während der 5. und 12. Schwangerschaftswoche der Großmutter mütterlicherseits also der 3. Generation (4) und werden von deren Lebensumständen epigenetisch beeinflusst.
Im Spiel verarbeiten Kinder ihre meist unbewußt auftauchenden Themen wie beim Verstecken die Freude am entdeckt werden, beim Höhlenbau oder Aufsuchen von Tunneln etc. (5). In der therapeutischen Praxis der Eltern-, Kleinkind-, Babytherapie zeigen sich oft im Spiel über eine “nacherlebte Geburt” (6) nachhaltige Veränderungen im Bindungsverhalten von Eltern und Kind.
Weitere Bereiche, mit denen systemisch arbeitende Menschen zunehmend konfrontiert werden, sind traumatisch erlebte Geburten und die Folgen von künstlicher Befruchtung, Leihmutterschaft etc. für die Eltern und die Kinder. Daher wäre es m.E. wichtig, dass in den Weiterbildungscurricula der Systemischen Therapie und Beratung Umgang mit diesen Themen in Theorie, Methodik und Praxis zukünftig ein Platz eingeräumt wird. In diesem Sinne möchte ich ein Zitat von Virginia Satir aus dem Jahr 1989 erwähnen (7):
“Bevor ich diese Welt verlasse, ist eines der Dinge
von denen ich mir wünsche, die ganze Welt würde sie wissen,
dass menschlicher Kontakt durch die Verbindung von Haut,
Augen und Klang der Stimme entsteht. Das sind die Dinge,
die uns gelehrt wurden, bevor wir Worte hatten. Die Art,
in der unsere Eltern uns berührten, wie sie uns anschauten,
wie ihre Stimme klang, das alles ist in uns gespeichert.“
Literatur-Auszug:
(5) Brönner Kola, Thurmann Ilka-Maria, Den Anfang heilen. Prä- und perinatale (Spiel-)Therapie, (2021) Mabuse.Verlag
(2) Bolten, M., Nast, I., Skrundz, M., Stadler, C., Hellhammer, D. H., & Meinlschmidt, G. (2013). Prenatal programming of emotion regulation: Neonatal reactivity as a differential susceptibility factor moderating the outcome of prenatal cortisol levels. Journal of Psychosomatic Research, 75(4), 351–357.
Eickhorst, A., Röhrbein, A.: Systemische Methoden in Familienberatung und -therapie,
Göttingen: 2019, Vandenhoeck&Ruprecht Verlag
(2) Elbert, Meyer et al.: “Transgenerational impact of intimate partner violence on methylation in the promoter of the glucocorticoid receptor”
Evertz, K. / Janus, L. / Linder R. (Hg.) Lehrbuch der Pränatalen Psychologie ( 2014) Heidelberg, Mattes Verlag
(2) Glover, V., O’Donnell, K. J., O’Connor, T. G., & Fisher, J. (2018). Prenatal maternal stress, fetal programming, and mechanisms underlying later psychopathology – A global perspective. Development and Psychopathology, 30(3), 843–854.
(3) Groot Bramel, Regina: Übergänge: Wie wir Kinder dabei gut begleiten. (2017) Ibbenbüren, Klaus Münstermann Verlag
Janus, L (Hg.): Die pränatale Dimension in der Psychotherapie, (2013) Heidelberg, Mattes Verlag
(6) Käppeli, Klaus, Die Schule, Geburts- und Lebensraum des Kindes, (2018) Heidelberg, Mattes Verlag
(2) Lipton, B.H.: Intelligente Zellen, wie Erfahrungen unsere Gene steuern, (2006) Burgrain, KOHA-Verlag
(3) Miller, Karen: Handbücher für die frühkindliche Bildung/ Bedeutsame Übergänge für Kinder von 0-3 Jahren, (2013) Braunschweig, Westermann-Verlag
Stachowske, R.: Leben ist Begegnung: Systemische Therapie und Beratung, (2016) Kröning, Asanger Verlag
(4) https://flexikon.doccheck.com/de/Oogenese 03.04.2024 17:05
(7) https://www.landsiedel.com/at/nlp-bibliothek/virginia-satir.html 03.04.2024 18:53