Die „Pränatal fundierte Psychotherapie“ hat ihre Methodik und Praxis in einer großen Zahl von Darstellungen in den letzten Jahrzehnten zugänglich gemacht und ein solides Fundament erarbeitet, auf das die etablierten Psychotherapiesysteme zurückgreifen können. Hier seien nur beispielhaft genannt: „Pränatale Psychologie und Psychotherapie“, Mattes, Heidelberg 2004 mit einer Reihe von Originalarbeiten und einer Leseliste und weit über 100 Fall bezogenen Darstellungen.
Je nach den Bedingungen des jeweiligen psychotherapeutischen oder klinischen Settings ergeben sich unterschiedliche modellhafte Anwendungsformen.
Modell der „Pränatal fundierten Psychotherapie“ in der Psychotherapie Erwachsener
In Bezug auf die bestehende Spaltungsstruktur des psychotherapeutischen Feldes mit einer an der postnatalen Entwicklung orientierten Psychoanalyse und Tiefenpsychologie auf der einen Seite und den an traumatischen vorgeburtlichen und geburtlichen Belastungen orientierten Ansätzen in der Humanistischen Psychologie auf der anderen Seite hat die “Pränatal fundierte Psychotherapie“ den Anspruch, diese Spaltung zu überwinden. Das eröffnet potentialreiche Ressourcen für die etablierten psychotherapeutischen Systeme. Für die Psychoanalyse und die Tiefenpsychologie ergibt sich die Anregung und Begründung, die in ihren Theorien und ihrer Praxis bestehende Verleugnung der lebensgeschichtlichen Bedeutung der vorgeburtlichen Lebenszeit von der Geburt zu überwinden, um die frühe vorsprachliche Lebenswirklichkeit behandlungspraktisch zu integrieren. Wesentlich ist dabei wiederum eine entschiedene Erweiterung der Wahrnehmung in Bezug auf die Abkömmlinge vorgeburtlicher und geburtlicher Erfahrungen. Weiter wird eine Diskussion um die Einbeziehung körperpsychotherapeutischer, regressionspsychotherapeutischer und imaginativer Techniken wichtig sein. Für die an den traumatischen vorgeburtlichen und geburtlichen Belastungen orientierten Ansätzen in der Humanistischen Psychologie ergibt sich die Anregung, die komplexe Individuationsbegleitung, wie sie in der Psychoanalyse und Tiefenpsychologie realisiert wurde, mit dem eigenen Ansatz konstruktiv zu verbinden.
Neuere Zusammenfassende Darstellungen von Theorie und Praxis der „Pränatal fundierten Psychotherapie“ geben unter anderem diese Bücher:
Levend H, Janus L (Hg.) (2011) Bindung beginnt vor der Geburt. Mattes, Heidelberg.
Janus L (2000) Der Seelenraum des Ungeborenen. Pränatale Psychologie und Therapie. Patmos, Ostfildern.
Janus L (Hg.) (2013) Die pränatale Dimension in der Psychotherapie. Mattes, Heidelberg.
Schindler P (Hg.) (2011) Am Anfang des Lebens. Schwabe, Basel.
Modell einer „Pränatal fundierten Psychotherapie“ in der Kinderpsychotherapie
In der Kinderpsychotherapie mit ihren vielen szenischen Elementen können sich prä- und perinatalen Erfahrungen sehr unmittelbar darstellen. Es geht wesentlich um eine Erweiterung der Wahrnehmung der Therapeuten, um diese Zusammenhänge auch konstruktiv aufzugreifen. Beispielhaft sind hier die Beiträge von Antonia Stulz-Koller und Bruno Hilkert in „Die pränatale Dimension in der Psychotherapie“, Mattes, Heidelberg 2013, und der Beitrag von Antonia Stulz-Koller im „Lehrbuch der pränatalen Psychologie“, ebenso auch das Fallbeispiel von Dorette Kugele in „Das Seelenleben des Ungeborenen – eine Wurzel unseres Unbewussten“ (Download von www.Ludwig-Janus.de).
Die Fortschritte in der Pränatalen Psychologie ermöglichen heute auch einen verstehenden Umgang mit den Nöten und Regulationsstörungen von Säuglingen, wie die Arbeiten von William Emerson, Franz Renggli, Karlton Terry und Rien Verdult zeigen.
Modell der „Pränatal fundierten Psychotherapie“ in der frauenärztlichen Sprechstunde
Rupert Linder und Sven Hildebrandt haben in ihren Arbeiten gezeigt, dass vorgeburtliche und geburtliche Erfahrungen eine aktuelle Schwangerschaft und Geburt in bedeutsamer Weise beeinflussen und prägen können. Darum ist die Erfassung dieser Zusammenhänge durch eine erweiterte Wahrnehmung der Geburtshelfer und Frauenärzte eine dringliche Forderung der Praxis. Die existentielle Situation der Schwangerschaft und der Geburt konstelliert Möglichkeiten intensiver und wirksamer psychotherapeutischer Interventionen. Vorbildlich sind hier die Beiträge von Rupert Linder in „Die pränatale Dimension in der Psychotherapie“ und von Rupert Linder und Sven Hildebrandt in „Die pränatale Dimension in der psychosomatischen Medizin“ und im „Lehrbuch der Pränatalen Psychologie“, Mattes, Heidelberg 2014.
Das Modell der „Pränatal fundierten Psychotherapie“ in der Kunstpsychotherapie
Wegen der methodischen Eigenständigkeit ist es sinnvoll die Kunstpsychotherapie als ein besonderes Modell der Pränatal fundierten Psychotherapie hervorzuheben. Die Ebene des bildnerischen Gestaltens gibt eine besondere Möglichkeit vorsprachliche Erfahrungsinhalte zu repräsentieren und der Reflexion zugänglich zu machen, wie die Arbeiten von Klaus Evertz beispielhaft zeigen, siehe etwa sein Beitrag in „Seelisches Erleben vor und während der Geburt“ von S. Haibach und mir herausgegeben, LinguaMed, Neu-Isenburg 1997, und seine mit mir herausgegebenen Bücher „Kunstanalyse“ und „Kunst als kulturelles Bewusstsein vorgeburtlicher und geburtlicher Erfahrungen“, beide bei Mattes, Heidelberg.
Resümee
Die “Pränatal fundierte Psychotherapie“ basiert nicht nur auf den Beobachtungen in der psychotherapeutischen Situation, sondern ebenso auf den Ergebnissen der empirischen Wissenschaften zu den Wirkungen von vorgeburtlichen Stress, zur vorgeburtlichen Programmierung, zur frühen Hirnentwicklung, zur Geburtsdynamik, zur Epigenetik usw. Sie ist in diesem Sinne interdisziplinär begründet. Ihre Beobachtungen haben deshalb auch Auswirkungen auf die anderen Wissenschaft- und Praxisbereiche um Schwangerschaft und Geburt herum. So hat das Wissen um die psychologische Bedeutung der Bedingungen der frühen Entwicklung den Umgang insbesondere mit der Geburt und auf der Schwangerschaft erheblich beeinflusst. Insbesondere gilt das für den umfassenden Wandel im Umgang mit frühgeborenen Kindern, siehe das entsprechende Kapitel von Otwin Linderkamp im „Lehrbuch der Pränatalen Psychologie“, Mattes, Heidelberg 2014.
Der „Pränatal fundierten Psychotherapie“ kommt für die Erfassung der seelischen und lebensgeschichtlichen Auswirkungen der geburtshilflichen Eingriffe eine große Bedeutung und Verantwortung zu, da sie bisher als einzige über kompetente und aussagekräftige Beobachtungen und Aussagen verfügt, siehe die Arbeiten zu diesem Thema von William Emerson und Peter Schindler in “Die pränatale Dimension in der Psychotherapie“.
Vorbildlich ist auch der neue Kongressband der ISPPM zum Kaiserschnitt, herausgegeben von S. Hildebrandt, H. Blazy, J. Schacht und W. Bott, Mattes, Heidelberg 2014